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von Zsuzsanna Parrag 11 Juni, 2019

„Kommt, kommt! – Papa Pierre ist da. Kommt, ihn zu begrüßen!“ Neugierig folge ich den Menschen, lasse mich treiben von diesem Strom allgemein – freudiger Ausgelassenheit, der durch den ganzen Raum schwingt. Ein Arm zieht mich aus der Menge und ich schaue in Lolos freundliches Gesicht: „Bevor Du zu ihm gehst, solltest Du folgendes wissen: Es kann sein, dass Papa Pierre Dir etwas gibt – etwa so“: Er nimmt meine linke Hand und umschließt sie fest mit seiner rechten, „halte es ganz fest und stecke es in Deine Hosentaschen - verlier es auf keinen Fall!“ Mir bleibt kaum Zeit zu nicken, so schnell hat er mich wieder zurück in die Menge geschoben. Alle schauen nach vorn, auf das Geschehen rund um die kleine Kerze, die tanzende Schatten an die Wände wirft. Sie warten geduldig, dass sie an die Reihe kommen. Papa Pierre nimmt sich Zeit, scheint für jeden Grüßenden eine ganz persönliche Botschaft zu haben. Schließlich stehe ich vor ihm. Zwei Arme, die sich herzlich öffnen. Ich ergreife die kleinen alten Hände. Plötzlich verspüre ich einen Ruck. Ich verliere das Gleichgewicht und finde mich kniend vor der gebeugten Gestalt wieder, die auf einer Strohmatte sitzt. Keine Zeit zum Nachdenken – meine Hände scheinen mit den seinigen verwachsen, die mich mit einer unglaublichen Kraft hin und her wirbeln. Mir unverständliche Worte umschwirren meinen Kopf, werden eins mit dem bizarren Tanz, den ich unfreiwillig vollführe. Der Körper vor mir gehört einer rheumageplagten Person von 95 Jahren – kaum zu glauben, dass er stärker sein soll als meiner, der doch so viel jünger, trainierter ist. Ich gebe jeden Widerstand auf und lasse mich immer wieder an eine von Papa Pierres Wangen ziehen – dann, plötzlich: Ruhe, Pause, Stillstand – Schluss mit dem Staccato an Hin – und Her. Ganz langsam nimmt Papa Pierre meinen Kopf und zieht ihn sanft zu sich heran, um mich dann zärtlich auf die Stirn zu küssen. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Etwas in mir löst sich zu Tränen, die über mein Gesicht rinnen. In diesem Moment nimmt er meine Hände und schlägt zweimal leicht auf ihre Innenflächen. Erst in letzter Sekunde erinnere ich mich an die Bedeutung dieser Geste und forme Fäuste, die ich in meine Taschen gleiten lasse. Nun habe ich Papa Pierres Segen, aber ich bin ganz benommen, denn schließlich habe ich noch nie in meinem Leben einen Geist berührt. Denn genau das ist Papa Pierre, ein Esprit, der in Man Chouns Körper gefahren ist und Man Choun ist die Manbo, die die Zeremonie abhält, deren Gast ich bin. Aber Man Choun und ich - das wäre eine ganz andere Geschichte ...

aus Reiseimpressionen 2006, Kap Haitien
von Zsuzsanna Parrag 11 Juni, 2019

„Kommt, kommt! – Papa Pierre ist da. Kommt, ihn zu begrüßen!“ Neugierig folge ich den Menschen, lasse mich treiben von diesem Strom allgemein – freudiger Ausgelassenheit, der durch den ganzen Raum schwingt. Ein Arm zieht mich aus der Menge und ich schaue in Lolos freundliches Gesicht: „Bevor Du zu ihm gehst, solltest Du folgendes wissen: Es kann sein, dass Papa Pierre Dir etwas gibt – etwa so“: Er nimmt meine linke Hand und umschließt sie fest mit seiner rechten, „halte es ganz fest und stecke es in Deine Hosentaschen - verlier es auf keinen Fall!“ Mir bleibt kaum Zeit zu nicken, so schnell hat er mich wieder zurück in die Menge geschoben. Alle schauen nach vorn, auf das Geschehen rund um die kleine Kerze, die tanzende Schatten an die Wände wirft. Sie warten geduldig, dass sie an die Reihe kommen. Papa Pierre nimmt sich Zeit, scheint für jeden Grüßenden eine ganz persönliche Botschaft zu haben. Schließlich stehe ich vor ihm. Zwei Arme, die sich herzlich öffnen. Ich ergreife die kleinen alten Hände. Plötzlich verspüre ich einen Ruck. Ich verliere das Gleichgewicht und finde mich kniend vor der gebeugten Gestalt wieder, die auf einer Strohmatte sitzt. Keine Zeit zum Nachdenken – meine Hände scheinen mit den seinigen verwachsen, die mich mit einer unglaublichen Kraft hin und her wirbeln. Mir unverständliche Worte umschwirren meinen Kopf, werden eins mit dem bizarren Tanz, den ich unfreiwillig vollführe. Der Körper vor mir gehört einer rheumageplagten Person von 95 Jahren – kaum zu glauben, dass er stärker sein soll als meiner, der doch so viel jünger, trainierter ist. Ich gebe jeden Widerstand auf und lasse mich immer wieder an eine von Papa Pierres Wangen ziehen – dann, plötzlich: Ruhe, Pause, Stillstand – Schluss mit dem Staccato an Hin – und Her. Ganz langsam nimmt Papa Pierre meinen Kopf und zieht ihn sanft zu sich heran, um mich dann zärtlich auf die Stirn zu küssen. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Etwas in mir löst sich zu Tränen, die über mein Gesicht rinnen. In diesem Moment nimmt er meine Hände und schlägt zweimal leicht auf ihre Innenflächen. Erst in letzter Sekunde erinnere ich mich an die Bedeutung dieser Geste und forme Fäuste, die ich in meine Taschen gleiten lasse. Nun habe ich Papa Pierres Segen, aber ich bin ganz benommen, denn schließlich habe ich noch nie in meinem Leben einen Geist berührt. Denn genau das ist Papa Pierre, ein Esprit, der in Man Chouns Körper gefahren ist und Man Choun ist die Manbo, die die Zeremonie abhält, deren Gast ich bin. Aber Man Choun und ich - das wäre eine ganz andere Geschichte ...

aus Reiseimpressionen 2006, Kap Haitien
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